Mit Grausamkeit ist das so eine Sache. Ich gebe dir Recht, Padreic, daß die mexikanischen Kartelle gar nicht grausam genug dargestellt werden können. Nach dem, was man liest - insbesondere Lebendverbrennung, -begrabung und andere Formen von Foltermord, Bandenkriege, die auch mal ein ganzes Dorf auslöschen, Unterwanderung und Ausschaltung der Polizei in ganzen Regionen etc. - ist vielmehr jede realistische Darstellung im Film unzumutbar. Eher könnte man der Serie hier vorwerfen, zu verharmlosen, noch mehr gilt das sicherlich für die Seite der Drogenkonsumenten. Man kann die Größe der Serie darin sehen, daß sie den gesamten moralischen Komplex, der damit zusammenhängt, die Zerstörung von Körpern und Leben der Konsumenten binnen kürzester Zeit, vollkommen ausblendet (die meisten Kritiker scheinen das so zu sehen). Man kann sich auch fragen, ob die Welt das braucht - Filme wie diese bringen naturgemäß Menschen auf Ideen; der Konsum nimmt auch hierzulande zu, und zumindest in den USA trug ein Meth-Koch bei seiner Verhaftung ein Breaking-Bad-T-Shirt. Aber darauf wollte ich eigentlich gar nicht hinaus.
Für mich kann ein Film durchaus auch brutal sein, wenn es seiner Thematik angemessen ist - in Tarantinos Filmen zB störe ich mich auch nicht daran, wobei dort natürlich Überzeichnung eingesetzt wird, was hier eher Realismus sein könnte. Tatsächlich stört mich wohl eher, daß der Film mehr will als das - nicht nur unterhalten mit Gewalt, sondern darüber hinaus oder sogar in erster Linie eine Charakterentwicklung zeigen, die ich mangels Charakter so nicht nachvollziehen kann. - Ich gebe dir aber auch darin Recht, daß dies Geschmackssache ist und meine Kritik sicher in erheblichen Teilen auf enttäuschten Erwartungen bzw. Ablehnungsreaktion nach übermäßigem Lob beruht. Ich kann und will ja auch nicht verhindern, daß andere daran Gefallen finden - bin nur überrascht, mit meinem Befremden einer relativ kleinen Minderheit anzugehören, zumindest nach dem, was ich mitbekommen habe. -
Auf eine schöne, wenn auch deutlich harmlosere Parallele zur Filmhandlung stieß ich soeben in einer Theaterkritik von 1786:
Zitat von Cranz, Journal über die Hamburgische Schaubühne, S. 70f.:Der 2te Held des Stücks [Der eigne Richter, oder Verbrechen aus kindlicher Liebe] ist der Minister, Baron von Riepen, der alle seine Operationen so einrichtet, daß die Finanzen für ihn und für seine Kreaturen fein viel abwerfen. Der Grund seines Charakters ist gut, aber wer A gesagt hat, muß B sagen, und wer sich erst eine Schurkerey erlaubt, muß mehr machen; die folgende muß immer die erste decken. Diesemnach mußte auch dieser Minister einen bösen Streich nach dem andern machen; bey jedem seiner Fortschritte aber meldete sich doch immer das fatale Ding, was einfältige Leute Gewissen nennen - - er war noch nicht alt genug, um es ganz schweigen zu machen. So weit kann mans doch mit der Zeit und durch viel Übung bringen; denn ich habe viel steinalte Buben gekannt, die ihr ganzes Leben hindurch gestohlen, ganze Gassen von Häusern durch Abdrückung an sich und die Besitzer am Bettelstab gebracht hatten - - Es waren große und Hochgeehrte Diebe diese - - Herren; aber - je älter und je bejahrter sie wurden, je mehr hielten sie sich selbst für ehrliche Leute - starben so ruhig in ihren Sünden, als wenn sie der Segen des Staats gewesen wären. So weit hatte es der Minister von Riepen noch nicht gebracht; er fühlts noch, daß er ein Schurke war, und ihm war noch immer bange, daß hie und da ein Stückchen von seiner Manege an Tag kommen, und ihm den Hals brechen könnte - - Diese anwandelnde Empfindungen seines theuren Gewissens hinderten ihn indessen nicht, sich von der Nothwendigkeit aus einem Verbrechen immer in das andere fortschieben zu lassen.