Armut in Europa

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Ipsissimus
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Di 24. Dez 2013, 20:36 - Beitrag #1

Armut in Europa

http://www.heise.de/tp/artikel/40/40282/1.html

Die Armut hat in Deutschland seit 2005 bedrohliche Formen angenommen: Laut offiziellen Angaben lebten 2013 in Deutschland 12 Millionen Menschen in Armut oder galten als armutsgefährdet. 2,5 Millionen Kinder befanden sich in Einkommensarmut. 8 Millionen verdienten sich ihren Lebensunterhalt im Billiglohnbereich. 25 Prozent der Beschäftigten lebten von sogenannten prekären Jobs.


edit/
auch ganz gut zum Kontext passend: http://www.heise.de/tp/artikel/40/40631/1.html

Traitor
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So 19. Jan 2014, 17:00 - Beitrag #2

Das Prinzip von sozialen Abwärtsspiralen, sowohl auf einzelne "Erwerbsbiographien" als auch ganze Schichten bezogen, und dessen Ursachen im rein dem Gewinn der Investoren verpflichteten Wirtschaftssystem (im Gegensatz zu Stärkung der Unternehmensposition, Produktion von Wohlstand für Mitarbeiter wie Kunden), beschreibt Seppmann gut.
Unzutreffend verbunden wird dies allerdings mit dem Phänomen echter Armut, "Bettler und Obdachlose wurden wieder zu einem gewohnten Bild in den städtischen Zentren." Wenn unser noch so löchriges Sozialsystem noch eine Sache gut kann, dann ist es das Verhindern totaler auf-der-Straße-leben-Armut. Diejenigen, bei denen das nicht klappt, kommen im Allgemeinen von außerhalb des Sozialsystems oder stellen sich (ob zurechnungsfähigerweise oder nicht) selbst dorthin.
Am Ende kommt er dann aber wieder zur wirklich brisantesten Folge dieser Situation, der psychischen Zerrüttung ganzer Bevölkerungsschichten. Einerseits wird ihnen damit die Fähigkeit genommen, sich gegen zukünftige weitere Verschlechterungen von oben herab noch auf vernünftige Weise zu wehren; andererseits wird das Potential für unvernünftiges Aufbegehren, sprich Revolten, geschaffen.

Ipsissimus
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Mo 20. Jan 2014, 01:11 - Beitrag #3

Diejenigen, bei denen das nicht klappt, kommen im Allgemeinen von außerhalb des Sozialsystems oder stellen sich (ob zurechnungsfähigerweise oder nicht) selbst dorthin.


Hast du dafür Belege? Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass irgend jemand freiwillig auf der Straße wohnt.

Traitor
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Mo 20. Jan 2014, 15:07 - Beitrag #4

Siehe diesen Altthread, dessen Pseudokonsens ich als "es gäbe eigentlich immer Lösungen, aber viele Betroffene sind nicht (mehr) in der Lage, sie zu ergreifen, und es wird nicht genug getan, ihnen dabei aktiv zu helfen" zusammenfassen würde.
Zugegebenermaßen ist aber "Wenn unser noch so löchriges Sozialsystem noch eine Sache gut kann, dann ist es das Verhindern totaler auf-der-Straße-leben-Armut." zu faktisch formuliert, besser wäre "Wenn unser noch so löchriges Sozialsystem noch eine Sache eigentlich nominell gut kann, dann ist es das Nichterzwingen totaler auf-der-Straße-leben-Armut. "

Ipsissimus
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Mo 20. Jan 2014, 21:30 - Beitrag #5

na ja, wenn dem Wikipedia-Artikel getraut werden kann, tritt "weil sie sich selbst dahin stellten" als Ursache von Obdachlosigkeit nicht auf. Als häufigste Ursache werden da Zwangsräumungen infolge Mietschulden genannt, gefolgt von anderen Unerfreulichkeiten, die erst mal verkraftet werden wollen. Es sind nicht alle Menschen so stark wie hochbelastbare young urban professionals, vor allem dann nicht, wenn ihnen die Mittel fehlen

janw
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Di 21. Jan 2014, 14:33 - Beitrag #6

Die Armutsstatistik hat einen Haken, und zwar ist Armut nach der offiziellen Definition grob gesprochen der Besitz eines bestimmten geringen Anteils des durchschnittlichen Vermögens. Mithin wird es also in jeder materiellen Konstitution einer Gesellschaft Armut geben, da es immer ein bestimmtes unteres Perzentil der Wohlstandsverteilungskurve gibt.

Andere Definitionen setzen auf einem Existenzminimum auf, das auf irgendeine Weise definiert ist, international wird häufiger mit Dollar pro Tag gerechnet.

Auch diese Definitionen haben ihre Probleme - woran bemisst sich das Minimum der Existenzfähigkeit? Maslowsche Bedürfnispyramide? Schon schwierig beim Vergleich Kinder/Erwachsene, wo Bildung einbezogen werden muss. Mensch als Kulturwesen? Mensch als soziales Wesen, Stichwort "Gesellschaftliche Teilhabe"? "Weiche" Faktoren wie Lebensperspektiven, Möglichkeiten der Selbstentfaltung, Chancen der Verbesserung der Lebensumstände?

Aus diesen Fragen ergeben sich die Abweichungen zwischen den Armutswahrnehmungen verschiedener gesellschaftlicher Instanzen.

Zitat von Ipsissimus:Hast du dafür Belege? Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass irgend jemand freiwillig auf der Straße wohnt.

Ich habe vor Jahren an einer Diskussion zu der Frage teilgenommen, und danach scheint es wirklich Menschen zu geben, die es irgendwie nicht lange an einem Ort "aushalten". Vielleicht ist die Sesshaftigkeit auch nur eine menschliche Möglichkeit, die sich vor 5000 Jahren zur dominierenden Lebensweise entwickelt hat und Nicht sesshaft leben könnende zu "Nicht-Normalen" gestempelt hat.

Padreic
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Mi 22. Jan 2014, 05:55 - Beitrag #7

Es gibt da, denke ich, ein breites Spektrum zwischen nicht in einem geregelten, sesshaften Leben leben zu können und nicht in einem solchen Leben zu wollen.
Ist eine Zwangsräumung wegen Mietschulden Anlass der Obdachlosigkeit oder deren Grund? Man muss ja da zwei Dinge fragen: Wie ist es überhaupt zu den sich anhäufenden Schulden gekommen und warum geht der Betroffene nicht, vor oder doch spätestens nach der Räumung, zum Sozialamt/zur Agentur für Arbeit? Häufig brachen und brechen viele Probleme auf einmal über den Betroffenen ein. Ein Hauptpunkt dürfte aber auch die Unfähigkeit oder Unwilligkeit sein, sich der Gängelei der Arbeitsangentur oder auch eines geregelten Jobs zu unterwerfen.
Ipsissimus spricht die Belastbarkeit eines Menschen an. Aber die ist keinesfalls unabhängig vom Willen zu betrachten, die es sogar höchst eng mit ihm verwoben! Natürlich hat jeder Mensch seine Grenzen, aber ertragen kann man doch oft, was man ertragen will. Manchmal kann man aber den Willen nicht aufbringen...Können und Wollen sind häufig in einem komplexes dialektischen Verhältnis zueinander.

Aus soziologischer Perspektive mag es letztlich aber auch egal sein, ob man das Verhalten einer Person seinem Zustand oder seinem Willen zuschreibt (obgleich solche Zuschreibungen wieder soziologisch untersucht werden können). Wichtig ist nur, ob man es ändern kann und das zum besseren.
Fest steht, dass es kein reines Problem von Geldleistungen ist. Chancen, von der Straßen wegzukommen, werden durchaus geboten, die aber von den Obdachlosbleibenden nicht freiwillig ergriffen werden. Das mag verschiedene Gründe haben:
1) Man ist nicht informiert genug.
2) Man kann sich nicht "aufraffen".
3) Die "Chancen" erscheinen einem nicht schmackhaft genug.
(1) könnte man leicht entgegenwirken, (2) nur bei teilweiser Aufhebung der Mündigkeit, (3) wohl nur mit der Einschränkung des Leistungsgebots und selbst dann vielleicht nicht (siehe janw).

Von Obdachlosigkeit weg allgemein zur Armut: Wie janw schon schrieb sind die Armutszahlen üblicherweise nur relativ zu verstehen. Da Armut und Not auch etwas subjektives sind, hat das natürlich schon eine Relevanz. Diese Zahlen einfach unqualifiziert hinzustellen, ohne die objektive Entwicklung von Wohlstand und Lebensstandard daneben zu stellen, hat aber etwas irreleitendes. Auch 'prekären Jobs' müsste präzisiert werden; bei 25% kann ich mir vorstellen, dass hier alle befristet angestellten mitgerechnet werden. Wenn ich dann plötzlich als prekär Beschäftigter gelte, verliert der Begriff ein wenig seine Bedeutung....


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