Paris, Frankreich
Langsam tauten die Blumen wieder auf, warfen das weiße Kleid des Schnees von sich und streckten ihre bunten Köpfe der Sonne entgegen. Sie sahen aus, wie Neugeborene, die ihrer Mutter entgegen blickten. Der Winter hatte ihnen sehr geschadet; die meisten waren erfroren, was sehr schade war. Doch überall krochen schon Gärtner auf allen vieren durch die Gärten und pflanzten neue Blumen: Tulpen, Rosen, Veilchen, alles was es zu kaufen gab, auf dem Markt. So viel Vielfalt und Schönheit einem entgegenblickt, wenn man an einem Garten vorbeikommt, der vor kurzem noch nackt und kalt aussah. Wie viel Wärme doch Blumen ausdrückten..
Vivian fuhr mit dem Fahrrad an Notre Dame vorbei und lächelte den Touristen zu, die begeistert vor der Kathedrale standen und fleißig fotografierten, um es zu Hause jedem zu zeigen. Doch ein Bild konnte diese Schönheit nicht festhalten. Man musste Paris gesehen haben, erst dann sah man die versteckte Wärme in den Bildern. Man konnte die Bilder mit Erinnerungen und Erlebnissen verknüpfen. Denn wenn man nur Bilder der anderen ansah, war nichts. Ein nacktes Gebäude starrte einem entgegen. Man konnte nicht sagen „Sieh Schatz, genau da haben wir uns geküsst und ein Russe hatte uns fotografiert!“ Für die Betrachter waren es nur Bilder. Nur Bilder. Ohne Wärme, Erinnerung und Gefühl.
Sie winkte einer alten Frau zu, die gerade aus der Kathedrale kam und ihren kleinen Hund fest an sich drückte, dass er kaum Luft bekam. Vivian lachte still in sich hinein und trat etwas in die Pedale. Apropos Hund: Johnny musste sie auch noch versorgen, bevor sie den kleinen Garten zu recht machen konnte.
Das Hundefutter in ihrem Korb auf dem Fahrrad machte ein nerviges „Klack!Klack!Klack!“, als sie über das Kopfsteinpflaster fuhr, doch sie ignorierte es, so stark sie konnte. Heute konnte ihr nichts die Laune verderben, nicht einmal das klickende Dosenfutter. Als Vivian in eine kleine Gasse bog, strich ihr der kalte Wind durch das dichte Haar und hätte beinahe das rote Tuch darin herausgehoben und weggeweht. Doch die Franzosin konnte es noch schnell packen und es um den Lenker des alten Fahrrades binden. Was wäre es für ein Pech gewesen, wenn sie das teure Seidentuch verloren hätte. Immerhin besaß sie es schon seit ihrer Kindheit und es sah noch so neu aus und roch so gut, wie am ersten Tag, als sie es bekam.
Bevor Vivian durch das Gartentor eines kleinen Hauses fuhr, stieg sie ab, um keine zu tiefen Spuren in dem Rasen zu hinterlassen, denn einen Weg gab es nicht. Der Hausbesitzer, ein alter und freundlicher Herr, wollte keinen Weg. So war es ihm viel lieber. Er saß gerade auf der kleinen Holzbank und sonnte sich, als Vivian das Fahrrad an den Gitterzaun anlehnte. Sie wollte eigentlich so schnell wie möglich ins Haus, ein Bad nehmen und den Hund füttern und dem Vermieter aus dem Weg gehen. Doch er war viel zu schnell und winkte sie zu sich.
Vivian seufzte verstohlen, als sie auf ihn zuging. Wenn er einmal zu reden begann, konnte er nicht mehr aufhören.. Sein faltiges Gesicht war von der brennenden Sonne ganz rot geworden und auf seinen trockenen Lippen lag ein liebes Lächeln. Auch Vivian zwang sich zu einem Lächeln. Auch wenn sie keine Lust hatte, mit ihm zu reden, sie wollte nicht unhöflich sein.
„Guten Tag.“, sagte sie im ruhigen Ton und steckte die Hände in die Taschen ihrer roten Bluse. Er nickte einige Male (als Begrüßung) und hielt ihr einen großen Umschlag entgegen.
„Der ist heute für Sie angekommen, kleine Vivian.“, nuschelte er in seinen weißen Bart hinein und rieb sich die Hände, wie ein Geschäftsmann.
„Für mich?“ Vivian nahm verwundert den Umschlag. Sie bekam so selten Post, dass es schon an ein Wunder grenzte. Und auch noch ein großer Umschlag?
„Ein großer langer schwarzer Wagen stand heute morgen vor der Tür und zwei Männer hatten sich erkundigt, ob Sie da seien. Ich hab ihnen gesagt, dass sie arbeiten müssten, da haben die Männer mir diesen Umschlag gegeben. Seit wann haben sie denn so reiche Freunde, Vivian?“
Vivian starrte immer noch baff den Umschlag an und drehte ihn in ihren Händen. Er kam aus New York. Wieso New York? Sie kannte niemanden aus Amerika. Hatte dort auch keine Verwandte oder so.
„Ich habe keine reichen Freunde.“, sagte sie fast automatisch, setzte sich neben den alten Herr und riss den Umschlag auf. Sie überflog ihn interessiert und noch ehe sie am Ende angekommen war, beugte der Vermieter sich zu ihr und fragte, um was es denn ginge. Vivian legte den Umschlag auf den Tisch und strich ihn mit ihrer kalten Hand glatt.
„Ein Spiel.“, sagte sie. „Es geht um ein Spiel. Um was genau, weiß ich nicht. Das steht hier nicht. Aber ich soll nach New York kommen.“ Sie hob ein Flugzeug-Ticket nach New York hoch und wusste nicht, was sie tun sollte. Der alte Herr klatschte in die Hände und lachte: „Oh! Sie werden bestimmt Bingo in New York spielen! Haha! Ist das schön!“
„Der Flug ist morgen früh. Erste Klasse.“ Ihre Stimme klang dünn und zitternd. Wieso sollte man ausgerechnet sie zu einem Spiel in Amerika einladen?!
„Von wem ist denn das Geschenk?“, lächelte der Vermieter.
„Von zwei Männern namens George und Louis Mc Fallow. Scheinen reiche Leute zu sein, wenn sie jemanden wie mir einfach einmal eine Karte spendieren..“, murmelte sie.
„Werden sie teilnehmen, Vivian? Sagen Sie bitte ja! Das wird bestimmt witzig! Vielleicht gewinnen sie sogar etwas Geld und können sich dann eine größere Wohnung kaufen. Und wenn nicht, sehen sie sich nur die Stadt an..“
„Ich weiß nicht.. Immerhin weiß ich nichts, ich meine, um was es in diesem Spiel geht. Und New York ist soweit weg..“ Sie strich sich ihren schwarzen Rock glatt und spielte dann mit einer Strähne.
„Ach, das wird nur Bingo sein, vielleicht stellt man ihnen auch einige Fragen – machen sie mit!“ Er sah sie überglücklich an, als hätte gerade in Lotto gewonnen. Und irgendwie brachte sie dieses erfreute alte Gesicht dazu, zu nicken..